Dieser Beitrag ist der erste Teil einer zweiteiligen Interviewreihe mit Ben Hodges. Das nächste Interview wird in der Printausgabe vom Herbst/Winter 2024 veröffentlicht. Wir freuen uns ebenfalls, dass sich Ben Hodges bereiterklärt hat, einen Vortrag im Herbst 2024 am Lessing zu halten. Weitere Infos folgen.
Interview mit Ben Hodges (Ex-Oberkommandeur der US-Landstreitkräfte in Europa)
Der frühere 3‑Sterne-General Ben Hodges war von 2014 bis 2017 Kommandeur der US-Landstreitkräfte in Europa. Mittlerweile im Ruhestand, engagiert er sich als Experte für internationale Sicherheitspolitik und Osteuropa insbesondere für die Ukraine.
Konstantin Feldbausch: Würden Sie uns bitte einen kurzen Überblick über die aktuelle Situation in der Ukraine geben?
Ben Hodges: Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass dieser Krieg vor mehr als zehn Jahren begann, nicht erst vor zwei Jahren, sondern 2014, als Russland zum ersten Mal in die Ukraine einmarschierte und die Krim und später den Donbas, den östlichen Teil der Ukraine, eroberte. Vor etwas mehr als zwei Jahren, am 24. Februar 2022, begann dann die groß angelegte Invasion der Ukraine, die sogenannte „militärische Spezialoperation“. Obwohl das Thema Ukraine-Krieg in den letzten Monaten nicht mit Erfolgsmeldungen von der Front Schlagzeilen machte, kontrolliert Russland nach mehr als zehn Jahren weniger als 20 % der Ukraine und hat eine halbe Million Soldaten, Tausende von gepanzerten Fahrzeugen und seine gesamte Schwarzmeerflotte verloren. Auch die Luftwaffe blieb im westlichen Teil der Ukraine weitgehend wirkungslos. Wenn man zusätzlich berücksichtigt, dass die Vereinigten Staaten und andere Verbündete sechs Monate lang keine Waffen an die Ukraine lieferten, ist dieser Krieg meiner Ansicht nach noch lange nicht vorbei. Die russische Armee wird weiterhin bewusst unschuldige Menschen töten, wie wir zuletzt beim Raketenangriff auf ein Einkaufszentrum in Charkiw gesehen haben. Und natürlich ist sie zahlenmäßig und bezüglich der Artillerie im Vorteil. Diese wird sie auch weiterhin nutzen, um die ukrainischen Verteidiger zu zermürben. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass Russland die Verteidigungslinien durchbrechen und die Ukraine besiegen kann. Sollte das geschehen, dann nur, weil die USA und Deutschland versagt haben, die Ukraine ausreichend zu unterstützen.
In einem Interview Ende letzten Jahres sagten Sie, dass die Ukraine und der Westen in 2024 vor drei großen Aufgaben stünden. Erstens, die Front zu stabilisieren, zweitens, den Personalmangel in der Armee zu lösen, um Rotation, Erholung und Training zu ermöglichen, und drittens, den Wettlauf um Munitionsbeschaffung zu gewinnen. Nun ist fast ein halbes Jahr vergangen. Welche Zwischenbilanz ziehen Sie?
Trotz schrecklicher Kämpfe um Charkiw und taktischer Erfolge in Awdijiwka ist die Front weitgehend stabilisiert und ein russischer Durchbruch nicht gelungen. Ich glaube, dass General Syrskyj (Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte) jetzt, da weitere Unterstützung aus dem Westen, insbesondere aus den Vereinigten Staaten, geleistet wird, die Lage noch weiter stabilisieren kann. Bei der zweiten Aufgabe, dem Personalmangel in der Armee, sind allerdings nur teilweise Fortschritte erzielt worden. Die Rada, das ukrainische Parlament, hat einer Gesetzesänderung zugestimmt und die Altersgrenze für Wehrpflichtige von 27 auf 25 Jahre gesenkt. Aber selbst das ist immer noch zu hoch, wenn man bedenkt, dass junge Frauen und Männer in den USA mit 17 oder 18 Jahren in die Armee eintreten. In einem Krieg ums Überleben muss die Ukraine also ihr System umgestalten. Familien müssen allerdings darauf vertrauen können, dass ihr Sohn, ihre Tochter, ihr Bruder oder Ehemann, wenn sie zum Militär gehen, nicht einfach „verheizt“ werden. Sie müssen umfassend ausgebildet werden, die notwendige Ausrüstung erhalten und in eine funktionierende Einheit integriert werden. Das bedeutet natürlich auch Helme, Schutzwesten und Waffen für 100.000 neue Rekruten. Das sind alles Aufgaben der Regierung. Nur so lässt sich am akuten Personalmangel etwas ändern. Die dritte Aufgabe, der Wettlauf um Munition, betrifft sowohl die Ukraine als auch den Westen. Momentan baut der Westen seine Produktionskapazitäten aus. So wird der erste Teil der von den Tschechen zugesagten eine Million Schuss Munition demnächst an die Ukraine geliefert. Auch die Produktion von ATACMS (ballistischen Raketen) in den USA wurde wieder hochgefahren. Und die Ukraine selbst versucht auch mit Hilfe deutscher, britischer und türkischer Unternehmen ihre eigene Rüstungsindustrie wieder aufzubauen. Alles Anzeichen, dass wir uns in die richtige Richtung bewegen, nur eben viel, viel zu langsam.
Zweifellos haben die USA und Europa ein strategisches Interesse, dass die Ukraine gewinnt. In Interviews fordern Sie, Putin müsse in jedem Fall gestoppt werden. Viele Deutsche befürchten, die Lieferung schwerer Waffen könnte zu einer weiteren Eskalation und sogar zu einem Atomkrieg führen. Ist diese „German Angst“ begründet?
Es ist nicht nur „German Angst“. Auch mein Präsident und sein Stab in den USA haben Angst, eine rote Linie zu überschreiten, auf die Russland mit dem Einsatz einer taktischen Atombombe reagieren könnte. Obwohl Russland Tausende von Atomwaffen und keine moralischen Skrupel besitzt, unschuldige Menschen einschließlich der eigenen zu töten, zöge Russland aber keinen praktischen Nutzen daraus. Ukrainische Städte werden auch ohne Einsatz von Atomwaffen zerstört. Ich bin zudem überzeugt, die Russen nehmen Präsident Bidens Drohung von vor zwei Jahren ernst, als er sagte, dass der Einsatz einer Atomwaffe, egal wie und wo, katastrophale Folgen für Russland hätte. Das bedeutet allerdings nicht, dass die USA ebenfalls eine Atomwaffe einsetzen würden. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass wir das nicht täten und auch nicht müssten. Wir könnten Russland auch mit unseren konventionellen Waffen katastrophal treffen. Ziele unserer konventionellen Waffen wären zum Beispiel alle russischen Streitkräfte in der Ukraine oder russische Stützpunkte in Syrien. Russland weiß aber um das Abschreckungspotential seiner Atomwaffen und setzt es gezielt ein, weil Moskau sieht, dass wir deshalb zögern. So stellt Deutschland Taurus nicht zur Verfügung, weil der Bundeskanzler befürchtet, Deutschland könne dadurch in den Krieg hineingezogen werden, ohne eigene Atomwaffen zu haben, wie Großbritannien und Frankreich. Ich glaube, seine Sorge ist unbegründet, aber ich kann sie ein wenig verstehen. Und Russland beobachtet das alles genau und kündigte deshalb auch an, Atomwaffen nach Belarus zu verlegen. Dieser Schritt macht deren Einsatz aber weder wahrscheinlicher noch treffsicherer, ändert also nichts. Russland will nur signalisieren, „Vergesst nicht, wir haben Atomwaffen!“
Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, damit der Westen und die Ukraine den Krieg tatsächlich gewinnen und Putin besiegen?
Das Wichtigste wäre erst einmal festzulegen und öffentlich zu verkünden, dass ein Sieg der Ukraine das strategische Ziel ist. Mein Präsident, der deutsche Bundeskanzler, Präsident Macron usw. sollten sagen: Wir wollen, dass die Ukraine gewinnt – um der Ukraine willen, aber auch, weil es in unserem eigenen Interesse ist, Russland zu stoppen. Die Aufgabe jeder Regierung besteht darin, ein strategisches Ziel zu definieren. Nur mit einem klaren Ziel vor Augen lässt sich wirksam Politik betreiben. Wir haben 20 Jahre in Afghanistan verbracht, zwei Billionen Dollar ausgegeben, Tausende Menschenleben geopfert und es endete in einer Katastrophe, einer sinnlosen Verschwendung von Menschenleben und Ressourcen. Wenn ich zurückblicke, hatten wir nur im ersten Jahr ein klares Ziel, nämlich sicherzustellen, dass Al-Qaida Afghanistan nie wieder als Operationsbasis nutzen kann. Dieses Ziel hatten wir erreicht. Wir hätten dann abziehen sollen, aber stattdessen sind wir geblieben. Gründe gab es viele, aber keine Strategie. Deshalb ist es entscheidend, zu allererst ein klares Ziel für die Ukraine zu formulieren, um gute Politik zu machen. Daran hapert es. Wenn ich mir die Maßnahmen ansehe, die ergriffen werden, scheint das Ziel darin zu bestehen, eine Eskalation zu vermeiden. Dafür tun wir alles, aber nicht mehr, vor allem setzen wir keine Maßnahmen durch, die die USA zu viel kosten. Resultat ist eine teilweise irrationale Politik, die beispielsweise der Ukraine verbietet, amerikanische Waffen jenseits der Grenze einzusetzen. Genau von dort werden aber Tausende von russischen Raketen abgefeuert, die unschuldige ukrainische Zivilisten töten. Und warum? Weil die Regierung nicht auf einen Sieg, sondern Deeskalation aus ist. Die russische Geschichte lehrt uns, dass westliche Deeskalation als Schwäche interpretiert wird, auf die Russland mit verstärktem Druck reagiert. (Anmerkung der Redaktion: Seit Juni darf die Ukraine gegen einige Ziele auf russischem Territorium westliche Waffen einsetzen.)
Woran denken Sie genau, wenn Sie auf die russische Geschichte anspielen?
Ich denke an die Zeit des „Kalten Krieges“, als es noch eine große Bundeswehr gab und sehr viele US-Streitkräfte in Westdeutschland stationiert waren. Letzteres war ein klares Signal an die Sowjets, dass wir Amerikaner bereit waren, Milliarden von Dollar auszugeben, um Westdeutschland zu verteidigen. Obwohl auch die Sowjets über ein riesiges Atomwaffenarsenal und Truppen verfügten, war diese Demonstration der Stärke der entscheidende Garant dafür, dass die Sowjetunion sich an getroffene Vereinbarungen hielt.
Lassen Sie uns nun über die US-Präsidentschaftswahl 2024 sprechen. Angenommen, Donald Trump würde ins Weiße Haus zurückkehren, müssten die NATO, vor allem aber Europa um ihre sicherheitspolitischen Beziehungen zu den USA fürchten?
Ich werde ganz offen mit Ihnen sein. Natürlich hoffe ich, dass Mr Trump die Wahl nicht gewinnt, weil ich glaube, dass er eine Bedrohung für unsere Demokratie und unsere Verfassung darstellt. Aber natürlich werde ich jedes Ergebnis der US-Wahl respektieren, gleichgültig, wie sie auch ausgehen mag.
Was die Konsequenzen für die NATO und Westeuropa angeht, bin ich mir nach wie vor unsicher. Konservative Experten, die Herrn Trump unterstützen, sagen, man müsse zwischen „Wahlkampf-Getöse“ und seinem tatsächlichen Handeln unterscheiden. Aber ich traue ihm nicht und finde es sehr gefährlich, wenn ein amerikanischer Präsident oder Präsidentschaftskandidat sagt, Putin könne mit jedem NATO-Land, das seine 2 %- Verpflichtung nicht einhalte, machen, was er wolle. Das ist extrem gefährlich, denn der Kreml könnte denken, dass Trump das vielleicht ernst meine. Andererseits hat Trump während der ersten beiden Jahre seiner Amtszeit, als ich noch in der Armee war, trotz ständiger Kritik an unseren Verbündeten und der NATO die Zahl der US-Truppen in Europa sogar erhöht. Es ist deshalb schwer vorherzusagen, was er genau tun wird. Als „Dealmaker“ will er ein Geschäft abschließen. Und in seinem Herzen glaubt er, dass die Vereinigten Staaten ein schlechtes Geschäft gemacht haben, weil sie jahrzehntelang so viel Geld für Verteidigung gezahlt haben. Die europäischen Länder konnten auf Kosten der USA davon profitieren und viel Geld für Sozialprogramme statt ihre Verteidigung ausgeben. Ein berechtigter Vorwurf! Jeder Präsident hat sich darüber beschwert. Aber Tatsache ist, dass die Art und Weise, wie Trump vorgeht, dem Zusammenhalt der NATO und den amerikanischen Interessen schadet. Sollte Herr Trump wiedergewählt werden und weiterhin das amerikanische Bekenntnis zur NATO und dabei insbesondere zu Art. 5 in Frage stellen, wird die Bedrohungslage für unsere Verbündeten noch größer. Die europäischen Länder würden sich in ganz anderem Ausmaß als heute um ihre Verteidigung bemühen müssen. Sie würden sich nicht mehr auf uns verlassen können. Insbesondere sehr wohlhabende Nationen wie Deutschland, die Niederlande, Frankreich und Norwegen, die traditionell ihren Verpflichtungen nicht in vollem Umfang nachkamen, würden sich sehr ernsthaft mit ihrer wichtigsten Aufgabe befassen müssen – dem Schutz ihrer Bevölkerung vor äußeren Feinden.
In einem Interview kündigte der ehemalige US-Präsident Trump an, er werde, wenn er wieder an die Macht käme, den Krieg in der Ukraine innerhalb von 24 Stunden beenden. Ist dieser Plan realistisch?
Außer den USA gibt es 49 weitere Länder, die die Ukraine unterstützen und ein Interesse daran haben, dass die Ukraine nicht zusammenbricht, darunter Deutschland, Großbritannien, die Niederlande, Australien, Südkorea und andere. Wenn Trump sagt: „Ich beende den Krieg in 24 Stunden“, dann ist das natürlich völliger Unsinn, kommt aber bei seinem Wahlkampfpublikum gut an. In Afghanistan hat er dasselbe getan: Er hat einen Deal mit den Taliban abgeschlossen, an dem weder die afghanische Regierung noch unsere Verbündeten beteiligt waren. Er legte fest: „Wir werden zum Zeitpunkt X abziehen.“ Und dann begannen die USA mit dem Abzug. Wenn Mr. Trump jetzt erklärt, er könne den Krieg innerhalb von 24 Stunden beenden, dann meint er damit, dass er Putin sagen wird: „Du rückst nicht weiter vor. Dafür kannst Du die besetzten Gebiete behalten und ich werde die Grenzen der Ukraine schützen. Aber solltest du dich nicht an diese Abmachung halten, werde ich der Ukraine zum Sieg verhelfen, koste es, was es wolle.“ Dieses Vorgehen ist meiner Ansicht nach unverantwortlich, entspricht aber der Mentalität eines Mannes, der sich als „Dealmaker“ sieht, ohne zu berücksichtigen, was die Ukrainer wollen.
Das Lessing-Journal bedankt sich für das interessante und ausführliche Interview vom 24. Mai 2024.