Sie haben schon Tradition am Lessing-Gymnasium, die Veranstaltungen zum 9. November. Wenngleich in der Vergangenheit in diesem Zusammenhang meist an die Reichspogromnacht 1938 erinnert wurde, stand beim diesjährigen Vortrag am 5. November ein anderes Schlüsselereignis der deutschen Geschichte im Fokus: der Fall der Mauer 1989 und das Ende der sozialistischen Diktatur.
Zu Gast in unserer Aula war Mike Mutterlose, der seine Kindheit und Jugend selbst in der DDR verlebt hat. Offen und anschaulich berichtete er vom damaligen politischen System der DDR und den Auswirkungen auf die Bürger: von der gezielten Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit, von der massenhaften Ablehnung gestellter Ausreiseanträge, von staatlichen Repressalien gegenüber politisch Andersdenkenden und ihren Familien und von der aus allem resultierenden Perspektivlosigkeit vieler Menschen.
Besonders eindrücklich ist die Erzählung über seinen Fluchtversuch, den er als 19-Jähriger gemeinsam mit zwei Freunden am 23.08.1988 über die tschechische Republik unternahm. Angefangen bei der so weit wie möglich geheim gehaltenen Planung der Flucht über ihre riskante Ausführung und das Misslingen der Unternehmung, bis hin zu anschließend erfolgten Verhören, Folter und Untersuchungshaft. Es schloss sich der Gerichtsprozess an – mit glimpflichem Ausgang, denn statt der drohenden 6 bzw. 8 Jahre für seine „Republikflucht“ kam Mutterlose mit 1,5 Jahren Haft davon. Nach einigen Monaten Straflager, in denen er als politischer Gefangener extrem schlimme Arbeiten mit hohem Gesundheitsrisiko verrichten musste, gelang dann im Zuge der Häftlingsfreikäufe von politisch Inhaftierten durch die BRD schließlich die vorzeitige Beendigung seiner Haftzeit. Die glückliche Familienzusammenführung fiel zeitlich mit der Zuspitzung der politischen Situation zusammen, welche schließlich zum Fall der Mauer und in der Folge dann zur Wiedervereinigung Deutschlands führten.
Seine traumatischen Erlebnisse hat Mutterlose verwunden. Heute engagiert er sich im Bereich der Aufarbeitung und reist in diesem Zusammenhang unter anderem an Schulen, um als Zeitzeuge darüber zu berichten.
Alle Oberstufenschüler/innen, viele Lehrkräfte und Vertreter/innen des SEB sowie des BdF waren der Einladung Herrn Kerns, des Leiters des Fachbereichs II, gefolgt. Und Mutterlose nahm sich Zeit für die Fragen der Schüler/innen: Wie wurde er nach seinem Freikauf in der BRD aufgenommen? Was wurde aus seinen Freunden? Welche Versäumnisse haben Politik und Gesellschaft seiner Meinung nach hinsichtlich einer Wiedervereinigung Deutschlands zu vertreten? Sind die aktuellen Bestrebungen, extrem ausgerichtete Parteien zu verbieten, seiner Einschätzung nach vereinbar mit dem grundsätzlichen Recht auf Meinungsfreiheit jedes einzelnen? Was gibt er seinen jungen, interessierten Zuhörer/innen mit auf den Weg?
Mutterloses Grundhaltung ist klar: Niemals darf die Demokratie gefährdet werden. Deshalb ist Erinnern für ihn so wichtig, denn es ermöglicht ein tieferes Verständnis der Vergangenheit, mit all den Fehlern, die gemacht wurden, damit diese sich nicht mehr wiederholen mögen.
Text und Bilder: K. Gellen
